Null Cocktailkleid Blau
„Die Fahrradhölle hat einen Namen und der ist Bochum“, sagt Ralf Bindel von der örtlichen Radwende-Initiative. „Es gibt nichts, das derart schrecklich ist, als mit dem Fahrrad von einer Ecke der Stadt in die andere zu fahren. Es gibt keine durchgehenden Fahrradverbindungen. Es gibt keine sicheren, komfortablen, schnellen Radwege.“ Ein Flickenteppich aus Fahrradstreifen verteile sich über die Stadt – manchmal nur hundert Meter lang, angsteinflößend schmal – die abrupt im Nichts enden oder auch mal vor einem Stromkasten.
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Mit seinem Ärger ist Bindel im Ruhrgebiet nicht allein. Die Hölle findet sich auch woanders. Viele Fahrradverbände der Region verzweifeln an den Zuständen in ihrer Stadt.
„Allen Sonntagsreden zum Trotz – die kommunale Verkehrsplanung ist durch und durch auf das Auto fixiert“, sagt uns ein Stadt- und Verkehrsplaner, der viele Jahre in einer Kommune am Rande des Ruhrgebiets gearbeitet hat und lieber anonym bleiben möchte. „Es gab schlicht keine Kapazitäten bei der Stadt, beim Kreis als Aufgabenträger und beim zuständigen Verkehrsbetrieb, um ambitionierte Ausbauplanungen zu betreiben.“
Die fehlenden Kapazitäten schlagen sich in Zahlen nieder: In Gelsenkirchen zum Beispiel klaffte Ende vergangenen Jahres eine 67,5 Kilometer große Lücke im Fahrradnetz der Stadt. 2011 betrug sie noch 93 Kilometer. Würde die Stadt in diesem Tempo weiterbauen, bräuchte sie 21 Jahre, um alle Netzlücken zu schließen. Instandhaltung und Sanierungen nicht berücksichtigt, denn von den bestehenden Radwegen ist aktuell jeder vierte Kilometer baufällig.
Essen baut bereits seit 23 Jahren: 1997 wurde das Hauptroutennetz für die Zweiräder geplant. Heute sind drei Viertel fertig. Die letzten Lücken sollen bis 2025 geschlossen werden. Was „auch langsam Zeit“ werde, kommentiert Jörg Brinkmann vom Allgemeinen Deutschen Fahrradclub (ADFC) der Stadt. Trotzdem könnte der Zeitplan ambitioniert sein. Die letzten Lücken umfassen 60 Kilometer, wie die Stadt in ihrem Masterplan Verkehr schreibt – das Jahresbudget für das Vorhaben: 500.000 Euro. „Allerdings sind deutlich höhere Investitionen erforderlich, um die baulichen Lücken im Radverkehrsnetz in angemessener Zeit zu beseitigen und dadurch den Radverkehrsanteil weiter zu erhöhen“, heißt es wörtlich in dem Dokument der Stadt.
Zum Vergleich: Auch Bottrop hat ein Jahresbudget von 500.000 Euro für den Radverkehr vorgesehen, wie man auf uns auf Anfrage mitteilt. Damit seien „bis zu 500 Meter an Lückenschluss möglich.“
Für den Radverkehrsanteil haben sich einige Städte hehre Ziele gesetzt: In Bochum sollen bis 2030 60 Prozent aller Wege mit dem Umweltverbund zurückgelegt werden; das heißt mit öffentlichen Verkehrsmitteln, zu Fuß oder mit dem Rad. Essen will bis 2035 sogar 75 Prozent schaffen. Dafür müssten die Essenerinnen und Essener allerdings zwei bis drei Mal häufiger aufs Rad steigen als aktuell und ihre Autofahrten um mehr als die Hälfte reduzieren. Wie so eine Mobilitätsverlagerung zu schaffen ist, haben die Gelsenkirchenerinnen und Gelsenkirchener in einer Umfrage der Stadt sehr konkret beantwortet.
Der Modal-Split-Anteil des städtischen Radverkehrs liegt in Gelsenkirchen derzeit bei neun Prozent, das heißt: Bei etwa jeder zehnten Fahrt kommt der Drahtesel zum Einsatz. Eine Verbesserung dieses Schnitts sollte zumindest nicht am Besitz von Fahrrädern scheitern: Sieben von zehn Gelsenkirchenern haben ein Fahrrad, bei Kindern und Jugendlichen sind es sogar neun von zehn. Woran scheitert es also? Bei der städtischen Befragung erklärte jeder vierte Gelsenkirchener, dass ihn die Infrastruktur einfach nicht zum Fahrradfahren motiviere.
„Die aktuellen Vorschläge aus der Politik sind vor allem im ursprünglichen Sinne nachhaltig, also systemstabilisierend und das ist nun mal die autofixierte Stadtplanung“, sagt uns der Stadtplaner. Jahrelanger Frust klingt aus seinen Worten. „In der von alten, deutschstämmigen Männern bestimmten Politik ahnt man allerdings so langsam, dass man sich vielleicht doch mal um den Nahverkehr kümmern muss und dass das Thema zudem wahlkampfrelevant geworden ist. Aber Ahnung haben selbst die Vertreter der Grünen nicht, sodass man sich mit halbgaren Vorschlägen überbietet, was nun schnell gemacht werden soll.“ Die letzten vorhandenen Planungskapazitäten der Kommune seien dann oftmals damit gebunden, Ideen wieder einzufangen, die entweder kontraproduktiv sind oder ein schlechtes Verhältnis zwischen Aufwand und Ertrag haben, erklärt er.
Nach Angaben der Stadt Gelsenkirchen gegenüber CORRECTIV gibt es derzeit gerade einmal drei Planstellen für den Radverkehr innerhalb der Verwaltung. Eine weitere Ausschreibung sei noch offen, ob die Stelle besetzt werden könne, sei ungewiss. „Der Markt ist leergefegt“, sagt ein Mitarbeiter der Stadt. Erschwerend käme die Konkurrenz der Kommunen untereinander um neues Personal hinzu: „Wir kannibalisieren uns im Grunde gegenseitig.“
„In den kommenden zehn Jahren werden mehr als 1,3 Millionen Beschäftigte bei den Kommunen in den Ruhestand gehen“, sagt Ulrich Silberbach, Bundesvorsitzender des Dachverbands der Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes. „Damit steht uns ein ganz gewaltiger Verlust von Arbeitskraft und Know-how ins Haus. Wir müssen schleunigst die Beine in die Hand nehmen und zusehen, dass wir den öffentlichen Dienst mit sinnhafter Digitalisierung und nachhaltiger Personalpolitik fit für die Zukunftsaufgaben bekommen.“ Zu dieser angespannten Lage kommt die grundsätzlich schlechte Personalausstattung der Kommunen hinzu: Von 1991 bis 2017 sind bundesweit 477.300 Stellen auf kommunaler Ebene abgebaut worden. Aktuell seien 300.000 Stellen unbesetzt, gab der Deutsche Beamtenbund Anfang des Jahres bekannt.
Der Personalbedarf ist somit groß, doch gleichzeitig stehen die Kommunen in direkter Konkurrenz mit der Privatwirtschaft.
Auf einen arbeitsuchenden Ingenieur oder eine Ingenieurin im Bereich Bau/Vermessung/Gebäudetechnik/Architekten kommen in NRW 4,68 offene Stellen, wie der Verein Deutscher Ingenieure für das erste Quartal 2020 festhält. „Es fehlt insbesondere an Personal, das entsprechende Maßnahmen im Hoch- und Tiefbau plant, betreut, prüft und administrativ abwickelt“, schreibt das Deutsche Institut für Urbanistik (difu) zum kommunalen Fachkräftemangel. „Für viele Bauingenieurinnen und Bauingenieure sind Stellen im öffentlichen Dienst wenig attraktiv, sie haben in der Privatwirtschaft schlichtweg bessere Verdienstmöglichkeiten.“
Verkehrsexperte Florian Krummheuer kann dem nur beipflichten: „Viele Stellen bei den Kommunen sind in niedrigen Gehaltsgruppen angesiedelt, die Bezahlung ist im Vergleich zur Privatwirtschaft eher schlecht.“ Das führe dazu, dass viele Absolventen bei privaten Planungsbüros arbeiten, welche wiederum von den Kommunen beauftragt werden, für sie Nahverkehrs- oder Mobilitätspläne zu schreiben. „In einer solchen Situation kann kein dauerhafter Kompetenzaufbau vor Ort erreicht werden“, sagt Krummheuer.
Unser Stadtplaner stimmt Krummheuer zu: „Auch wenn die Hohepriester des Neoliberalismus predigen, es wäre besser so, kostet die externe Vergabe sehr viel Arbeitszeit für die Ausschreibung und Betreuung der Büros. Eine externe Vergabe ist nur sinnvoll, wenn es um spezielle Kompetenzen geht, die man dauerhaft nicht selber als Kommune braucht.“
Durch das Auslagern an externe Büros können die Kommunen auf eigenes Personal verzichten, Fachkräfte abbauen und trotzdem die gleiche Anzahl an Planungs- und Bauprojekten umsetzen. Das hat zur Folge, folgert die Studie des difu, dass die Kommunen auf lange Sicht abhängig und unselbstständig werden. Die größten Probleme beim Erstellen und Umsetzen von Verkehrsentwicklungsplänen, heißt es in der Studie, liegen neben den finanziellen Engpässen vor allem beim fehlenden Personal.
In diese Sackgasse scheinen die Kommunen sehenden Auges hinein zu laufen.
Keine überraschenden Antworten für unseren Stadtplaner: „Neue Planstellen werden in den Verwaltungen nicht geschaffen, vielmehr muss das vorhandene Personal die Maßnahmen aus den Klimaplänen umsetzen. Unter diesen Bedingungen kann man den Nahverkehr nicht mal eben neu erfinden.“
Neben der angespannten Personallage stehen die Kommunen auch finanziell unter Druck. Viele sind Teil des sogenannten Stärkungspaktes. Das heißt, sie sind strukturell überschuldet und erhalten finanzielle Hilfen des Landes. Im Gegenzug müssen sie einen Plan vorlegen, wie sie ihre Haushalte bis spätestens 2023 ohne Hilfe des Landes ausgleichen wollen. Um das zu schaffen, setzen die Kommunen auch auf Sparmaßnahmen. Alleine Bottrop und Duisburg wollen laut Zahlen der Gemeindeprüfanstalt zwischen 2018 und 2023 beim Personal 342 Millionen Euro einsparen.
Umso wichtiger sind Fördergelder von Bund und Land, um die Verkehrswende in den Städten voranzutreiben. Das Bundesverkehrsministerium verweist unter anderem auf die Förderrichtlinien für nicht-investive Maßnahmen und urbanen Modellvorhaben zum Radverkehr (BMVI), für den Nationalen Radverkehrsplan 2020 (BMVI), den Bau von Rad- schnellwegen (BMVI) oder auf das Programm Klimaschutz durch Radverkehr (BMU).
Aber auch das Beantragen und Abrechnen solcher Fördermittel ist aufwendig und bindet Personal in den Verwaltungen.
„Die Fachkräftebedarfe in den Kommunalverwaltungen, bei Eigenbetrieben und kommunalen Unternehmen sind mittlerweile so groß“, schreibt das Deutsche Institut für Urbanistik in seiner Fachkräfte-Studie, „dass aufgrund fehlender Personalkapazitäten Förderprogramme des Bundes und der Länder vielfach nur mit erheblichem Zeitverzug ausgeschöpft werden, Investitionen aufgeschoben oder gar nicht getätigt und öffentliche Dienstleistungen nur mit Einschränkungen erbracht werden können.“
Aber auch wenn das Geld da ist, gibt es Schwierigkeiten bei der Planung und Umsetzung von Maßnahmen. Denn jetzt kommen die Bedürfnisse der Bürgerinnen und Bürger und die politischen Verhältnisse vor Ort ins Spiel. Ein Beispiel aus Essen illustriert typische Konflikte, die immer dann auftreten, wenn Verkehrsplanung die Privilegien des Autoverkehrs einzuschränken droht.
Essen hat sich erfolgreich um Fördermittel des Bundes beworben und ist zur Modellstadt für saubere Luft erklärt worden. Die Modellphase für die Förderung startete Ende 2018. Mit den bewilligten 21 Millionen Euro soll der Nahverkehr verbessert und Fahrrad- und Carsharing kostenlos werden. Auch in die Infrastruktur will die Kommune investieren. Ein Projekt ist dabei die Fahrradachse A, welche die Essener Stadtteile Holsterhausen, Frohnhausen und das Südviertel miteinander verbinden soll. Die Krux: Weil eine Straße entstehen soll, auf der Radfahrerinnen und Radfahrer eine eigenen Spur bekommen und Vorrang vor Autos haben sollen, müssten 147 Parkplätze gestrichen werden. Die Bezirksvertretungen der Stadtteile protestierten.
Anfang dieses Jahres hat der Bau- und Verkehrsausschuss der Stadt in einer Dringlichkeitssitzung eine veränderte Route beschlossen, jetzt fallen nur noch 56 Parkplätze weg. Einige der Lokalpolitiker sind damit aber immer noch nicht zufrieden und zeigen sich enttäuscht, dass „ihre Voten keine Berücksichtigung gefunden haben“. Alles in allem sind zehn Monate seit dem Start der Modellphase vergangen.
Das Projekt muss aber noch 2020 realisiert werden, da die Fördergelder sonst zurückzuzahlen sind.
Ein typisches Problem kommunaler Verkehrsplanung, das nicht nur die Verkehrswende im Ruhrgebiet ausbremst. „Es fällt im politischen Prozess schwer, beschränkende Maßnahmen zu verhängen”, sagt Mobilitätsexperte Florian Krummheuer, “beispielsweise was die Parkraumbewirtschaftung, Tempolimits, die Wegnahme von Parkplätzen für Busspuren oder Radwege angeht.“ Jedoch könne eine Förderung nachhaltiger Mobilität nur mit Einschnitten bei den Privilegien des motorisierten Individualverkehrs einhergehen, hält eine Analyse der Bundeszentrale für politische Bildung fest. „Allerdings enthalten gerade Restriktionen gegenüber dem Automobilverkehr politischen Sprengstoff. Politiker und Stadtplanerinnen müssen ein erhebliches Maß an Mut und Durchsetzungskraft aufbringen, wollen sie Städte für Menschen schaffen.“
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„Insgesamt habe ich den Eindruck“, sagt uns der Stadtplaner, „dass man sich bei dem geschäftigen Business-as-usual in der Planung generell wenig damit befasst, ob das eigene Tun überhaupt einen relevanten Einfluss hat auf den Lauf der Dinge, ob die Maßnahmen überhaupt was bewirken und wenn ja, ob es das ist, was man erreichen will. Die Maßnahmen, die wirklich helfen könnten, sind ja politisch ungewollt.“
Dabei wäre unsere Zukunft nach wie vor gestaltbar, meint Verkehrsexperte Krummheuer, sie brauche lediglich eine Richtungsentscheidung: „Wollen wir Autofahren immer bequemer machen oder wollen wir ein Verkehrssystem, das tatsächlich ressourcenschonend ist. Alle sprechen von Verkehrswende, aber diese Systemfrage wagt in der Politik niemand ernsthaft zu stellen.“ Für eine Verkehrswende brauche es leistungsfähige Rad- und Fußwege, sowie einen hochkapazitären ÖPNV. „Weil das viel Geld kostet und nur zu Lasten des Pkw umsetzbar ist, fokussiert sich die Verkehrspolitik vielerorts auf digitale Lösungen.“ Die dürften aber, sagt Krummheuer, „kein politisches Feigenblatt sein, um nötige, aber unpopuläre Entscheidungen auszusitzen.“
An eine langfristige und nachhaltige Verkehrspolitik, wie Verkehrsexperte Krummheuer sie beschreibt, wagen sich die wenigsten Kommunen. Sie versuchen vor allem Schadstoffwerte zu senken und so Fahrverbote zu vermeiden. Dazu schreiben sie sogenannte Green City Pläne.
Die Aufgabenstellung für diese Pläne ist klar umrissen: Stickstoffwerte an den Messstationen einhalten und Fördermittel des Bundes einwerben.
„Auffällig ist, dass sich einige Kommunen vollständig auf die Analyse und daraus abgeleitete Maßnahmen konzentrieren, die direkt auf die Verbesserung der Luftqualität an der NOx-Messstelle abzielen”, konstatiert eine Auswertung von 64 kommunalen Green City Plänen des Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur 2018. Passend dazu heißt es im Fazit des Essener Masterplans für Verkehr, der auch ein Green City Plan ist: „Die Aufstellung des ,Masterplan Verkehr Essen 2018‘ zielt auf kurz- bis mittelfristige Maßnahmen zur Verbesserung der Luftqualität ab.“
Um die Luftqualität zu verbessern und die Schadstoffwerte einzuhalten, richten die Kommunen bevorzugt Tempolimits an vielbefahrenen Straßen ein. Aber auch technische Maßnahmen wie die Verkehrsabhängige Lichtsignalsteuerung, umweltsensitive Verkehrssteuerung oder Intelligente Parksysteme sind beliebt. Was kompliziert klingt, bedeutet so viel wie: Ampeln so schalten, dass der Verkehr fließt, den Verkehr an den aktuellen Schadstoffbelastungen ausrichten und die Auslastung von Parkhäusern in einer App transparent machen. Mit solchen Maßnahmen tun die Kommunen genau das, wovor Mobilitätsexperte Krummheuer warnt: Sie machen das Autofahren bequemer.
Neben der Sinnhaftigkeit der einzelnen Maßnahmen steht aber auch die Verbindlichkeit der Planung in Frage.
In seiner Analyse zu nachhaltiger Verkehrsplanung schreibt das Deutsche Institut für Urbanistik: „Obwohl es gesetzliche Richtlinien zu Luft- und Lärmimmissionen gibt, bedeuten Verkehrsentwicklungspläne in Deutschland noch immer keine verbindliche Planung – es gibt weder gesetzliche Verpflichtungen noch Mindeststandards, die einzuhalten sind. Verbindlichkeit gibt es nur durch den Fördergeldgeber bei der Umsetzung von Maßnahmen oder wenn die Planung in eine andere, verbindliche Planung eingebunden ist, sodass sich die Frage stellt, inwieweit Verkehrsentwicklungspläne aktuell tatsächlich wirken.“
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Auch aus den Antworten, die uns die Ruhrgebietsstädte senden, wird das deutlich. Die Stadt Bottrop schreibt zum Beispiel: „Die Projekte sind nicht mit einer Deadline oder Frist versehen. Sie werden umgesetzt, soweit dies im Zuge sonstiger Maßnahmen möglich ist oder dann, wenn konkrete Fördermittel zur Verfügung stehen.“
So kann es auch nicht verwundern, dass viele der Pläne nicht einmal angeben, wie viel Personal nötig wäre, um die erarbeiteten Maßnahmen umzusetzen.
Ein Mitarbeiter eines Dortmunder Stadtplanungs-Büros sagt uns dazu: „In den Plänen sind konkrete Zahlen oft nicht erwünscht und werden bei Überarbeitungen gestrichen.“ So steht im Green City Plan der Stadt Gelsenkirchen lapidar: „Die Planung und Umsetzung der Maßnahmen bedingt einen erhöhten Personalbedarf, welcher zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht abschätzbar ist“ (S. 50). Im Green City Plan der Stadt Dortmund weist man darauf hin, „dass um die ambitionierten Ziele erreichen zu können, die personellen Ressourcen im Bereich der städtischen Mobilitätsplanung im Stadtplanungs- und Bauordnungsamt, der Ordnungsbehörden sowie auch das Umsetzungspersonal im Tiefbauamt weiter aufgestockt werden müssen“ (S. 52/53).
Dass mit diesen Pläne keine Verkehrswende gelingen kann, ist mitunter sogar den Ingenieursbüros klar, die sie verfassen.
Im Auftrag der Stadt Essen schrieb die Planungsgesellschaft büro stadtVerkehr deren Masterplan Verkehr. Im Fazit empfiehlt das Büro der Stadt „eine übergreifende und strategisch orientierte Bearbeitung des Themas Mobilität in einem separaten integrierten Gesamtkonzept“ (S. 198).
Solche Gesamtkonzepte sind im Ruhrgebiet (noch) rar. Viele Städte haben erst im vergangenen Jahr angefangen, sie zu erarbeiten, teilweise unter Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger. Diesen Kommunen ist ausgerechnet eine Stadt der Schwerindustrie einen guten Schritt voraus: Duisburg.
Zusammen mit ihrer Universität hat die Stadt im August 2018 das 261 Seiten starke Klimaschutz- und Verkehrskonzept Duisburg.Nachhaltig veröffentlicht. Im Gegensatz zu den Green City Plänen, die die Städte häufig bei Ingenieurbüros in Auftrag geben, bezieht es mehr als die üblichen Bausteine MIV (Motorisierter Individualverkehr), ÖPNV, Radverkehr, Logistik und Digitalisierung in die Planungen mit ein.
Ein Beispiel: Sowohl der Green City Plan der Stadt als auch das Klimakonzept Duisburg.Nachhaltig sehen vor, die Kommune an den Radschnellweg Ruhr (RS1) anzuschließen. Wie diese Maßnahme in den Plänen priorisiert und beschrieben wird, unterscheidet sich jedoch grundlegend: Während der RS1 im Klimakonzept als ein Projekt mit der höchsten Prioritätsstufe geführt wird, landet er im Green City Plan gerade einmal im Mittelfeld.
Auch der Detailgrad der Beschreibungen unterscheidet sich wesentlich: Wo der Green City Plan mit den Schlagworten „hoch, mittel, gering“ bezüglich der Kosten, des Personalaufwands und des Einsparpotentials bei den Emissionen hantiert, werden im Klimaschutzkonzept genaue Zahlen vorgelegt. 1,04 Millionen Euro Personalmittel müssten aufgewendet werden, um durch die Anbindung an den RS1 etwa 2.600 Tonnen CO2 im Jahr einzusparen.
„Die Erstellung kommunaler Klimakonzepte ist oft nur ein Markt für Ingenieurbüros und freie Institute”, sagt uns Klaus Krumme, wissenschaftlicher Geschäftsführer des Joint Centre Urban Systems (JUS) vom Zentrum für Logistik und Verkehr der Uni Essen-Duisburg. Krumme hat an dem Klimaschutzkonzept Duisburg.Nachhaltig mitgearbeitet. „Um im Klimaschutz erfolgreich zu sein, müssen wir aber ambitionierter vorgehen.” Das würde auch eine Neuaufstellung der Kommunen selbst und der verschiedenen Akteure aus Gesellschaft und Wirtschaft bedeuten. „Nicht zuletzt brauchen wir die Wissenschaft: Unsere Universität hat sich hier auch aus regionaler Verbundenheit und Verantwortung engagiert.“
Diese regionale Verbundenheit schlägt sich in der Art der Maßnahmen nieder, die das Klimakonzept empfiehlt.
In Quartiersprojekten wie dem sogenannten VeloVillage Neudorf/Duissern will man versuchen, gemeinsam mit den Bürgerinnen und Bürgern Ideen für einen fahrradfreundlichen Stadtteil zu erarbeiten und zu erproben. Auch Stadtbegehungen im Rahmen einer „Gehwerkstatt für aktive Nahmobilität“ sind vorgesehen. So will man Gefahrenstellen von Straßen und Radwegen gemeinsam mit den Duisburgerinnen und Duisburgern identifizieren, die sie davon abhalten, sich mehr mit dem Rad oder zu Fuß zu bewegen – ähnlich der CORRECTIV-Bürgerrecherche „Wo stehst Du?“.
Auch Felix Huber, Dekan der Fakultät für Architektur und Bauingenieurwesen der Bergischen Universität Wuppertal, empfindet die lokale Verwurzelung der Universitäten als eine ihrer Stärken. Er lässt seine Studentinnen und Studenten im Rahmen von Bachelor- oder Masterarbeiten regelmäßig Projekte in Zusammenarbeit mit Städten durchführen. „Davon profitieren beide Seiten, sowohl die Studenten als auch die Städte.“ Für die Studierenden seien die Kooperationen gute Lerngelegenheiten, weil sie ein direktes Feedback zu ihrer Arbeit durch die Bürgerinnen und Bürger bekämen.
„Und die Städte bekommen kostenlos hochwertige Projekte“, sagt er gegenüber CORRECTIV.
Zudem habe die Konfrontation mit den Bürgerinnen und Bürgern mindestens zwei weitere positive Effekte, erklärt der Dekan. Auf der Seite der Studierenden erfahre die Aufgabe „maximale Bedeutsamkeit“ und schärfe – neben der technischen Lösung – das Verständnis der Studierenden „für ihre soziale Verantwortung“. Andererseits profitierten aber auch die Kommunen, denn durch die Arbeit der Studierenden nähmen „,festgefahrene Diskussionen’ neue Fahrt“ auf.
Das könne bei den Städten manchmal dazu führen, dass sie sich dann doch mehr trauen.
„Die Politik hat eine Vorstellung davon, was die Bürger wollen“, sagt Felix Huber, “die Bürger wollen aber oft etwas ganz anderes oder sind schon weiter als die Politiker glauben“. Für ihn ist die Zusammenarbeit deshalb eine „win/win/win-Situation für Uni-Studierende und die Kommunen.“
Update 17.08.20: Die Überschrift des Textes wurde überarbeitet.
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Ob Arbeit, Urlaub oder einfach nur der Einkauf – Mobilität bestimmt unseren Alltag. Umso mehr frustrieren Staus, Bahnausfälle und baufällige Radwege. Deswegen wollen wir erfahren, was gut läuft in der Region und wo es Barrieren gibt. Und das nicht nur für Autos oder den ÖPNV, sondern auch für den Fuß- und Radverkehr. Denn die Frage nach der Mobilität lässt sich nur Verkehrsmittel-übergreifend beantworten. Daher fragen wir mit unserer Bürgerrecherche: „Wo stehst du?“ Das meinen wir nicht nur im übertragenen Sinne, sondern ganz wörtlich: Meldet uns direkt vom Bahnsteig oder von der Straßenecke den Stillstand in der Region. Ganz egal, ob zu Fuß, mit dem Rad, dem ÖPNV oder dem Auto – wir wollen wissen, wo geht es nicht weiter und wieso? Gemeinsam können wir die Region mobiler machen! Mehr Informationen hier.
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