Schwarzes Kleid Gothic
Zwei Blümchen, rot und blau. Die beiden Verzierungen auf der sonst tiefschwarzen Bluse waren so klein, dass man sie aus der Entfernung wohl gar nicht sehen konnte. Und doch bekam Madeleine Carruzzo für ihr Outfit am Tag nach dem Konzert Ärger: Einige Mitglieder hätten sich über die bunte Kleidung der Geigerin beschwert, so der Orchestervorstand, sie habe gegen die Kleiderordnung verstoßen. Die Bluse war damals vermutlich nur ein Vorwand. Eigentlich waren die Kollegen nicht gegen das Kleidungsstück an sich, sondern vielmehr gegen Carruzzo selbst – 1982 die erste Frau, die je bei den Berliner Philharmonikern spielen durfte.
Die Kleiderordnung eines Ensembles soll üblicherweise alle optischen Fragen beantworten, auch wenn solche Petitessen dort nicht festgeschrieben sind. Dunkler Anzug, schwarz oder dunkelblau, schwarze Strümpfe und Schuhe, dazu ein weißes Hemd und Krawatte, so steht es auch im Paragraf 28 des Tarifvertrags, der für die Mehrheit aller deutschen Orchester gilt. Für den klassischen Auftritt der Herren bedeutet das: Frack, Fliege, Kummerbund.
“Ich finde die Kleiderordnung angenehm, da muss ich mir keine Gedanken machen, was ich zum Auftritt anziehen soll”, sagt Michael Peternek, Cellist des Gewandhausorchesters in Leipzig. “Ich habe zwei Fräcke und zwei schwarze Anzüge, die bringe ich alle zwei Monate in die Reinigung.” Das reiche völlig aus, schließlich ziehe er sich immer gleich nach der Vorstellung wieder um. Beim Spielen bevorzuge er allerdings den Frack. “Der ist vorne nicht geschlossen und die Knöpfe am Revers und an den Ärmeln sind mit Stoff überzogen, die klappern nicht am Instrument.”
Während die Herren genaue Anweisungen bekommen, gilt für die Damen nur: entsprechend. Kleid, Rock, Hose, Blazer, Bluse, Top – die Interpretation von “entsprechend” kann sehr unterschiedlich ausfallen, auch weil nicht alle Musikerinnen in Kleiderfragen gleich stilsicher sind. “Manche geben regelmäßig viel Geld für Konzertkleidung aus, andere sieht man nur im Kartoffelsack”, lauten dann die Beschwerden. Dabei müsste die Stilrichtung eigentlich klar sein. “Der Frack gibt die Eleganz vor”, sagt Susanne Barner, Erste Flötistin bei den Hamburger Symphonikern. Zudem gelte: Wer sich zurechtmacht und gut gekleidet auf eine Bühne tritt, sitzt auch aufrechter. “Manche Kollegen vergessen: Ein Konzert muss für das Publikum immer etwas Besonderes sein.” Zu viel Aufmerksamkeit soll die Kleidung dennoch nicht erregen. “Ich bin kein Fan von Pailletten oder glitzernden Stoffen, ich fühle mich in einem schlichten Abendkleid mit einem Jäckchen am wohlsten.”
Die Bassisten des Orchestre National De France nutzen auf Reisen (hier in Kyoto) ihren Instrumentenkasten als Umkleide, um in ihren Frack zu schlüpfen.
Wenn Musiker gegen die Kleiderordnung verstoßen, also etwa bunt geringelte Socken zum Frack tragen, kann das zu einer schriftlichen Verwarnung oder einer Geldbuße führen. Dass die Kleidung auf der Bühne in einem guten Zustand sein sollte, dürfte eigentlich nicht weiter erwähnenswert sein. Dennoch kann man folgende Protagonisten regelmäßig auf den Bühnen bewundern: den Faden, der während des Konzerts lose vom Ärmel baumelt, die Laufmasche in der Strumpfhose, den abgetretenen Absatz. “Leider haben Orchester einen leichten Schmuddelhauch”, beschwerte sich Konzertveranstalter Peter Schwenkow vor ein paar Jahren in der Zeitschrift Das Orchester. Häufig sei das Publikum festlicher und gepflegter angezogen als die Musiker, die zum 278. Mal mit dem gleichen Hemd auf die Bühne kämen.
Für den Fall der Fälle haben die Musiker oft ein Notfall-Set mit Sicherheitsnadeln und Ersatzstrumpfhosen in der Garderobe. Manchmal muss man aber auch improvisieren. Kurz vor einem Konzert fiel Susanne Barner einmal auf, dass sie nur ein Oberteil eingesteckt hatte, die entsprechende Hose lag noch daheim. Sie trug ein buntes Kleid, damit hätte sie nicht auftreten können. “Zum Glück fiel dem Konzertmeister ein, dass seine Frau im Publikum ein schwarzes Kleid trug. Ich kannte sie zwar nicht, aber zehn vor acht stürmte ich im Foyer auf sie zu und rief: Stopp, ich brauche dein Kleid!” Leider war es nicht besonders lang. Im Orchestergraben ist das egal, aber bei diesem Konzert saß Susanne Barner auf einer Bühne.
Verwunderlicher als ein zu kurzes Kleid oder das gleiche Hemd, das – kurz gelüftet – wochenlang getragen wird, ist jedoch die Tatsache, dass seit Beethoven noch immer in den gleichen Stoffen gearbeitet wird. Gerade wenn man bedenkt, was sich auf dem Markt der Funktionstextilien in den vergangenen Jahren alles getan hat. Während Badeanzüge, Fußballtrikots und Radlerhosen winddicht, atmungsaktiv, thermoregulierend, federleicht, antimikrobiell, strapazierfähig, UV-beständig, wasserdicht und nach Wunsch wärmend oder kühlend geworden sind, sitzen Musiker in Schurwolle im Orchestergraben. Der Frack ist viel zu heiß und zu eng. Um den Arm etwa um die Posaune legen zu können, wird die Jacke manchmal zwei Nummern größer gekauft. Überhaupt erscheint das Bühnenoutfit unpraktisch: Viele lassen den obersten Knopf ihres Hemdes geöffnet und kaschieren die Lücke mit der Krawatte oder der Fliege, um freier atmen zu können. Und die obligatorischen Lackschuhe rutschen auch mal von den Pedalpauken.
“Was Musiker leisten, kann man mit Hochleistungssport vergleichen”, sagt Gabi Asfour, Professor an der Parsons School of Design in New York. Also begann er 2012 mit seinen Studenten, neue Uniformen in neuen Stoffen für das Baltimore Symphony Orchestra zu entwerfen. Dafür nahmen die Designer zunächst den Frack auseinander. Die Knopfleiste wanderte von vorne an die Seite des Hemds, damit sie an keinem Instrument mehr hängen bleibt. Die schwarze Fliege wurde durch einen Schnappkragen ersetzt, den man nach dem Konzert wie ein Schweißband in die Waschmaschine packen kann. Und die Weste zerlegte das Team in seine Einzelteile, damit sich lediglich das Vorderteil seitlich an das Hemd knöpfen lässt und man sich so den Extrastoff im Rücken spart. Die Damenrobe wurde an den Schultern luftiger, die Taille mit Stretch versehen, die Hosen wurden weiter, und die ohnehin häufig durchsichtigen Ärmel an den Kleidern durch einen feinmaschigen Stoff ersetzt, der nicht rutscht.
Elegant und zeitlos, aber aus komfortablem Material: ein Entwurf für die Damen des Baltimore Symphony Orchestra.
Im Februar bekamen die ersten Musiker des Orchesters die neuen Kleider überreicht, bis Juni soll der Rest ausgestattet sein. Posaunist Aaron Le Vere findet: “Es ist höchste Zeit, dass diese neuen Stoffe Verwendung in der Konzertgarderobe finden.” Schließlich merke man es auch der Musik an, wenn sich jemand unwohl fühlt, weil er während der Aufführung schwitzt. Die Idee, die Gewänder zu modernisieren, stammt von Marin Alsop, der Dirigentin des Hauses. Sie ließ den Designern freie Hand und hatte dennoch klare Vorstellungen: “Wir wollten weiter klassisch angezogen bleiben. Und zu trendy sollte es nicht sein, dann wären die Kleider in drei Jahren ja wieder out.” Dies ist wohl gelungen.
Solche Initiativen lösen jedoch nicht immer Begeisterung aus. Pünktlich zum Neujahrskonzert 2011 bekamen auch die Musikerinnen der Wiener Philharmoniker einheitliche Kleidung vorgesetzt: schwarz-grau gestreifte Nadelstreifenhosen, weiße Hemden, weiße Gilets, also Westen, und schwarze Sakkos, während die Herren bei Frack und Co. bleiben durften. Die Harfenistin Charlotte Balzereit-Zell fand den Look sehr männlich und beschloss: “Ich würde mir das jetzt nicht kaufen.”
Während einzelne Orchestermusiker nicht aus der Menge hervorstechen, sondern Teil des Schwarms bleiben sollen, haben die Solisten und vor allem die Dirigenten mehr Gestaltungsfreiheit in Sachen Bekleidung. Hélène Grimaud, französische Pianistin, trägt am Flügel am liebsten Kleidung, die sie gar nicht erst spüre, ihr Kollege Jean-Yves Thibaudet spielt bewusst im weit geöffneten Hemd mit Stehkragen. Von Herbert von Karajan ist bekannt, dass er auch im Rollkragenpulli auftrat, der Grieche Teodor Currentzis könnte einen Teil seiner Klamotten ohne Probleme auf einem Gothic-Festival tragen, und sonst beweisen Dirigenten häufig modisch Mut mit Bratenröcken, Kimonos aus Rohseide oder Joppen, die an Schlafanzüge erinnern. Der im Januar verstorbene Dirigent Pierre Boulez wetterte: “Dieser Frack! Ich kann ihn nicht mehr sehen!” Bertrand de Billy erklärte, Dirigenten im Frack erinnerten ihn an einen Pinguin.
Zu heiß, zu eng, zu elitär: Hat der Frack ausgedient? Ist es höchste Zeit, dass auch deutsche Orchester neu eingekleidet werden? “Wenn ich es mir aussuchen könnte, würde ich am liebsten ärmelfrei spielen”, sagt Eva-Maria Tomasi, Geigerin bei den Berliner Philharmonikern. Zu Beginn ihrer Karriere gab es für die Frauen im Ensemble keine Vorgaben. Doch weil sie alle zu unterschiedlich aussahen, schufen sie eine eigene Kleiderordnung. Und die besagt: Ärmel bis zum Ellenbogen. “Nicht schlimm. Im Gegensatz zu den Männern können unsere Ärmel ja aus dünnem Chiffon sein.”
Cellist Michael Peternek würde am Frack nichts ändern wollen, an der Kleidung des Publikums hingegen schon. “Ich finde es schön, dass sich die Leute schick machen. Aber ich gehe am liebsten in Jeans ins Konzert.” Damit dürfte er in Mailand nicht gut ankommen. 2007 bat die Scala ihr Publikum um “korrekte Kleidung”. Den Hinweis druckten sie auch auf die Rückseite der Eintrittskarten. Bleibt zu hoffen, dass die Besucher ihre Karte vor dem Konzert auch umdrehen.
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