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Neulich im Bus fragte ein kleiner Junge, ob sie ein Ninjakrieger sei. Die Mutter des Kleinen erklärte ihm mit angestrengt unterdrückter Stimme, die Frau da sei kein Ninja, sondern ein Tuareg. Die käme aus einer anderen Kultur und man müsse akzeptieren, dass sie sich anders kleide. Die Frau, die gemeint war, fand das lustig. Sie lächelte, aber das konnte niemand sehen. Iman, so nennt sie sich, ist von oben bis unten verhüllt, nicht ihre Beine sind zu sehen, nicht ihre Hände und auch nicht ihr Gesicht. Nadine, wie sie in ihrem Personalausweis heißt, hat vor einiger Zeit ihr früheres Leben beendet und ein neues begonnen. Sie trägt jetzt den Niqab, den Gesichtsschleier.
Die Verwandlung von Nadine, der lauten, starken, die von ihren Freundinnen Dini genannt wurde und rund um die Steglitzer Schlossstraße Kindheit und Jugend verbrachte, zu Iman, der Frau unter schwarzem Stoff, begann vor fünf Jahren.
Ihre Mitbewohnerin war es, die ihr vom Islam erzählte. Sie wünsche sich, dass auch Nadine nach dem Tod ins Paradies kommt, sagte sie, gab ihr ein Buch und nannte Websites, auf denen man auf Deutsch und Englisch Texte aus dem Koran lesen kann. Nadine las. Zur Erschaffung des Menschen und andere Dinge. Vor 1400 Jahren war das geschrieben worden, aber die Geschichten lasen sich für sie wie moderne wissenschaftliche Erklärungen zur Entstehung des Lebens. Nadine war fasziniert. Sie saß in ihrem Zimmer und weinte. Vor Glück, sie spürte: „Das ist es. Das ist meines.“
Stunden, Tage, Wochen beschäftigte sie sich mit dem Islam, las alles, was sie im Internet finden konnte. Dann stand ihr Entschluss fest. Sie wollte das auch, Teil davon sein. Der Glaube hatte bis dahin keine große Rolle in ihrem Leben gespielt: Sie war als Baby getauft worden, den Konfirmandenunterricht hatte sie abgebrochen. Während bei anderen Religionen Unterricht oder die Zustimmung von Geistlichen Voraussetzung für eine Konversion ist, genügt es beim Islam, vor Zeugen die Schahada, das Glaubensbekenntnis, auszusprechen. Ihre Mitbewohnerin und eine andere Freundin, ebenfalls Muslimin, waren dabei, als sie sprach. „Es gibt keinen Gott außer Gott, und Mohammed ist sein Gesandter.“ Dann beteten die drei gemeinsam. Dann war Nadine Muslima.
Wer zum Islam konvertiert, so heißt es, dem werden alle Sünden vergeben. Mit dem neuen Glauben beginnt eine neue Zeitrechnung. Für Nadine begann ein neues Leben.
In ihrem Alten wurde sie 1981 geboren, wuchs als Einzelkind in Steglitz auf. Ihre Eltern trennten sich kurz nach ihrer Geburt, den Vater lernte sie nie kennen. In der Grundschule bekam Nadine eine Gymnasialempfehlung, aber statt Hausaufgaben zu machen, hing sie im Einkaufszentrum herum. Noch vor der mittleren Reife brach sie die Schule ab, räumte im Supermarkt Regale ein, um Geld zu verdienen. Ihr Leben drehte sich um Partys, Freunde, Dates. „Sinnloses Herumleben“, nennt sie das heute. Etwas unbeständig sei sie schon immer gewesen. Einen Sinn gesucht habe sie nie. Eigentlich im Gegenteil, sie dachte nicht darüber nach. Im Islam aber fand sie plötzlich etwas. Eine Richtung. Einen Rahmen.
Viele Menschen finden diesen in der Religion. Zunehmend erscheint hierzulande offenbar auch der Islam als Weg. Zwar existieren bislang keine verlässlichen Daten zu muslimischen Konvertiten in Deutschland. Es gibt weder eine Meldepflicht noch eine zentrale Stelle, selbst die großen islamischen Verbände haben keine gesicherten Zahlen. Schätzungen des Bundesinnenministeriums gehen von zwischen 14.000 und 100.000 Menschen aus, die in Deutschland bislang zum Islam konvertiert sind: Das (wissenschaftlich umstrittene) Zentralinstitut Islamarchiv Deutschland in Soest führt ein Personenverzeichnis, die Registrierung ist jedoch freiwillig. Deshalb gilt die Zahl der dort gemeldeten 14.000 Konvertiten als Untergrenze. Das Zentrum für Türkeistudien in Essen wiederum spricht von geschätzten 100.000 Konvertiten. Die überwiegende Zahl jedenfalls sollen Frauen sein. Experten vermuten den Grund darin, dass sich Frauen eher als Männer dazu entscheiden, im Zuge einer Eheschließung die Religion des Partners anzunehmen.
Bei Nadine spielte das keine Rolle. Sie sagt: „Ich habe jetzt Halt. Ich habe meinen Schöpfer, ich versuche ihm zu dienen, so gut es geht. Es gibt für alles Regeln, an die ich mich halten muss, um ins Paradies zu kommen. Zu wissen, was mich erwartet, gibt mir große Kraft.“ Man kann nicht sagen, dass sie den bequemsten Weg gewählt hat. Er fühlt sich für sie richtig an.
Für das neue Leben gab sie sich einen neuen Namen. Iman bedeutet Glaube, Zustimmung, Vertrauen. Ein schöner Name mit einer schönen Bedeutung, findet sie. Fünfmal am Tag betet sie, auf Arabisch, die Bedeutung der Gebete hat sie sich übersetzen lassen. Iman lebt halal und isst halal, tut und isst also nur Dinge, die nach islamischem Recht erlaubt sind. Nicht erlaubt sind zum Beispiel Schweinefleisch, Alkohol und Wurst, in der Blut verarbeitet wurde. Nicht erlaubt ist auch, sich in Lokalen aufzuhalten, wo so etwas verkauft wird. Nicht erlaubt sind außerdem Popmusik hören, als Frau allein reisen, Augenbrauen zupfen und Bilder von Lebewesen in der Wohnung. Nicht erlaubt ist auch, sich fremden Männern zu zeigen. Deshalb trägt Iman den Niqab.
In Deutschland gibt es nicht viele Frauen, die sich komplett verschleiern, Experten schätzen ihre Zahl auf bundesweit unter 100. Der Anblick ist für viele Menschen mindestens ungewöhnlich, die Angst vor dem Fremden offenbar groß. Immer wieder wird auch in Deutschland über ein Verbot der Vollverschleierung diskutiert. In Frankreich wurde es gerade verabschiedet, in Belgien und Spanien ist ein derartiges Gesetz in Vorbereitung. Frauenverbände und -beauftragte kritisieren immer mal wieder die Verschleierung, halten Niqab und Burka für frauenfeindlich. Und auch in der muslimischen Community sehen die meisten Frauen das Thema kritisch. Bei einer Studie des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge im vergangenen Jahr trugen in den erfassten muslimischen Haushalten gerade mal 28 Prozent der Frauen ein Kopftuch. Die meisten Musliminnen in Deutschland kleiden sich nicht anders als andere Frauen.
Iman und ihre Freundinnen haben für Verbote kein Verständnis. „Es wird gesagt, der Schleier wäre ein Gefängnis für uns, und wir würden von den Männern zum Tragen gezwungen – aber das stimmt nicht“, sagt Iman. Da sie nicht verheiratet ist, keinen Vater oder Bruder hat, gibt es ohnehin keinen Mann, der ihr irgendetwas vorschreiben könnte. „Wenn es verboten wird, Niqab zu tragen, werden wir nur noch im Haus bleiben – das wäre dann wie ein Leben im Gefängnis!“
Bei Iman vollzog sich die Verschleierung in kleinen Schritten. Anfangs sah sie noch genauso aus wie früher. Als Nadine hatte sie CDs gesammelt, war an den Wochenenden gern zu Konzerten gegangen. Nach der Konversion packte sie ihre Musiksammlung in einen großen Karton und brachte ihn zum Müll. „Das war ein großer Schritt für mich“, erinnert sie sich. „Aber letztendlich fiel er mir leicht, weil ich wusste, was ich tue, ist gut.“ Sie wollte alles richtig machen. Alles für das Danach, das Paradies. Die Starposter in ihrem Zimmer hängte sie ab. Bildnisse von Menschen und Tieren stören die Engel, sagt Iman. „Sie kommen dann nicht ins Haus, wenn du betest.“
Etwa ein Jahr, nachdem sie das Glaubensbekenntnis gesprochen hatte, bedeckte Iman ihr Haar zum ersten Mal mit einem Kopftuch. Dann wickelte sie jeden Tag einen der bunten Stoffe um, die sie früher am Hals getragen hatte. Irgendwann empfand sie das als zu wenig. Im Internet entdeckte sie Onlineshops, in denen man islamische Kleidung bestellen kann. Etwa zweieinhalb Jahre nach ihrer Konversion ging Iman nur noch mit Kopftuch und weitem Umhang aus dem Haus. Aus freiem Willen, das ist ihr wichtig zu betonen. Einen Großteil ihrer alten Kleidung verschenkte sie. Iman trennte sich von Nadines Leben.
Dann kam der Tag, an dem Iman den Niqab anlegte, den Schleier, der nur einen schmalen Schlitz für die Augen freilässt.
Vor einigen Jahren fand sie in einem islamischen Beerdigungsinstitut in Neukölln einen Job. Sie hatte einfach gefragt, es gefiel ihr, in einem muslimischen Umfeld zu arbeiten. Zunächst war sie dort Sekretärin, mittlerweile macht sie das nicht mehr, hilft aber noch als Leichenwäscherin. Verstorbene Frauen dürfen nur von gläubigen Musliminnen für die Bestattung vorbereitet werden. Iman wäscht sie, zieht ihnen die vorgeschriebene Totenkleidung an, beträufelt Stirn, Handflächen und Knie mit Duftöl. Sie mag diesen Job. „Ich tue etwas Gutes, ich erweise den Toten eine letzte Ehre“, findet sie. Kopftuch oder Schleier tragen – bei dieser Arbeit kein Problem.
Nach ihrem ersten Arbeitstag mit Niqab saß sie im Bus nach Hause und fühlte sich gut. Komplett, irgendwie. Iman rief ihre Mutter an und sagte: „Mama, ich trag jetzt den Gesichtsschleier.“ Die Mutter stockte, nur kurz, dann sagte sie: „Okay.“ Als Iman später zu ihr fuhr, sagte sie dann doch, sie müsse sich an den Anblick erst noch gewöhnen. Aber sie hielt zu ihrer Tochter. Sie zeigt sich mit ihr, schämt sich nicht, dass ihre Nadine jetzt eine andere ist. Beim Bummel über die Schlossstraße wurde Iman mal als Terroristin beschimpft. Gegenüber solchen Leuten verteidigt die Mutter sie. Sie sagt dann: „Man sollte jeden so leben lassen, wie er oder sie will.“
Die beiden gehen zusammen einkaufen, Iman berät ihre Mutter in Modefragen, begleitet sie zum Friseur. Sie selbst kauft sich manchmal Schuhe, ausschließlich Turnschuhe, wie früher. Ihre Kleider kauft sie jetzt im Internet, sie hat die komplette Schleier-Kombination in Schwarz, Braun, Weinrot, Weiß und Dunkelblau.
Die Mutter sei eine große Stütze, sagt sie. Über den Glauben sprechen die beiden Frauen aber nicht. Nicht mehr. Es ist zu schwer, sie haben da andere Ansichten. Insgesamt sei das Verhältnis viel besser geworden „seitdem“, sagt Iman. Seit sie das Leben gewechselt hat. Mütter werden verehrt im Islam, sagt Iman, sie bemühe sich jetzt mehr, bringe Geschenke mit, kümmere sich. Die Mutter ist die Einzige, die sie noch Nadine nennt. Nennen darf.
Irgendwann möchte Iman eine eigene Familie gründen. Ihre Kinder würde sie auf jeden Fall muslimisch erziehen, ihnen schon früh beibringen, was erlaubt ist und was nicht. Einmal war sie schon verheiratet. Den Mann hatte sie im Internet kennengelernt. Ein gläubiger Muslim, Deutsch-Marokkaner. Er lebte im Ruhrgebiet, beim ersten Treffen war ihre Mutter dabei. So gehört es sich, eigentlich muss ein männliches Mitglied der Familie dabei sein, aber Iman hat ja nur ihre Mutter. Ein paar Wochen später heirateten der Mann und sie, er besuchte sie jedes Wochenende in Berlin. Doch Iman liebte ihn nicht so, wie er sie liebte. Nach einem Jahr ließen sie sich scheiden.
Ihr künftiger Mann, sagt sie, „der muss natürlich auch Muslim sein“. Er sollte islamisch leben und das auch nach außen zeigen, so wie sie selbst. Bei Männern bedeutet das: Bart, lange weite Gewänder. Mit der Partnersuche aber ist das nicht so einfach. Man kann es im Internet versuchen, bei den meisten in ihrer Umma, der Gemeinschaft, läuft es über Empfehlungen. Man wird miteinander verkuppelt, von den Brüdern und Schwestern. Die meisten ihrer Freunde sind ebenfalls Konvertiten. Sie treffen sich regelmäßig, meist unter Frauen. In die Moschee gehen sie nur selten. Einen Mann hat Iman nicht wieder gefunden. Bislang, sagt Iman, „hat es einfach nicht Klick gemacht“.
Mit Leuten von früher hat sie kaum noch zu tun. Manche fanden es befremdlich, dass sich die Nadine, mit der sie aufgewachsen waren, plötzlich anders nannte, anders kleidete, anders verhielt. Iman geht nicht in die Disco, interessiert sich nicht für Gespräche über Musik oder Jungs. „Wir leben in zwei verschiedenen Welten“, sagt sie. „Ich will über den Koranunterricht reden, darüber, was ich gerade gelesen habe.“ Neulich war sie mit einer Freundin von früher in einem arabischen Restaurant in Neukölln, in dem es Speisen gibt, die halal sind. Es war nett, aber es gab unangenehme Schweigepausen. Gemeinsamkeiten sind rar geworden.
Das Thema Zugehörigkeit ist schwierig. Verbunden fühle sie sich eigentlich nur ihrer Familie, sagt sie, also der Mutter und der Großmutter – und natürlich der Glaubensgemeinschaft, den Brüdern und Schwestern. Der Vater, der in traditionellen muslimischen Familien eine wichtige Position einnimmt, fehlt. Es sind nicht viele Menschen, die im Leben von Iman eine Rolle spielen. Die Verschleierung ist auch eine Abgrenzung.
In ihrer Umma, sagt sie, tragen etwa ein Dutzend Frauen den Niqab. Die meisten von ihnen sind Konvertitinnen. „Rechtgeleitete“ nennen sie sich selbst. „Musliminnen, die sich genug mit dem Koran beschäftigt haben, um zu verstehen, dass sie ihr Gesicht verhüllen sollten“, sagt Iman. Die Begriffe „Strenggläubig“ oder „praktizierend“ gibt es für sie nicht. Nur gläubig und ungläubig. Das Paradies, sagt sie, ist denjenigen vorbehalten, die alles richtig machen. Ob sie die Schleier jemals wieder ablegen wird? „Jetzt denke ich: niemals! Aber wer weiß schon, was passiert.“
Iman und ihre Schwestern fallen auf, wenn sie durch die Straßen gehen. „Früher haben mich alle angeguckt, weil ich laut war, jetzt tun sie es wegen meiner Kleidung“, sagt sie. „Ich bin immer schon gern aufgefallen.“ Vielleicht ist das auch einer der Gründe, der dazu führte, dass Nadine nun Iman ist.
Im Lateinischen heißt conversio Umwendung oder Umkehr. In Steglitz, ihrer Heimat, brüllte ihr mal jemand hinterher: „Geh da hin zurück, wo du herkommst!“ Dabei war sie ja dort, wo sie herkommt. Und auch bleiben will.
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