Dunkelblaues Kleid Gr 7
5. November 2017 von Don Alphonso | 579 Lesermeinungen
The inherent vice of capitalism is the unequal sharing of blessings. The inherent virtue of Socialism is the equal sharing of miseries.
Winston Churchill
Sie will unbedingt an mir vorbei, koste es, was es wolle. Es ist etwas absurd, denn ihr sandfarbener Smart, der perfekt zu den blonden Haaren passt, ist nicht wirklich eine Konkurrenz. Aber ich bin nur auf dem Mittleren Ring unter all den zur Arbeit strebenden Münchnern, weil die Autobahn gen Süden voll mit Baustellen ist. Sie hat es eilig, ich habe Zeit. Auf sie wartet sicher irgendwo ein Meeting oder ein Kunde, bei dem sie gut auszusehen hat. Ich habe mich weder geduscht noch rasiert, ich bin dreckig ins Auto gestiegen, denn dort, wohin mich die Lebensfreude zieht, werde ich gleich schmutzig. Sie hat eine Stunde Lebenszeit im Bad verbracht, um äußerlich das Beste aus sich heraus zu holen, und noch Besseres drüber zu malen, nur mich jetzt mit dem Smart zu bedrängen. Vielleicht hat ihr Büro im Münchner Süden Bergblick. Während sie die erste Stunde arbeitet, um ihre Kleidung und Kosmetik zu finanzieren, kann sie mit dem Ofenrohr in diese Berge schauen, und wenn sie genau hinschaut, sieht sie vielleicht sogar mich.
Denn das Leben ist ungerecht und es gibt zwei Arten von Menschen, die einen wollen nach vorne und die anderen sind es schon. In der Welt der Offices und Business Parks bräuchte sie mit ihrer Zielstrebigkeit keinerlei Belästigungsvorwurf, um an mir Faulpelz vorbei zu ziehen, so wie sie ihren Smart in die jeweils schnellere Kolonne quetscht. Sie würde um eine bessere Position mit allen Mitteln kämpfen, um eine bessere Mietwohnung bezahlen zu können, denn Kauf in München ist für Singles der Smart-Klasse eher aussichtslos, da hat sie den richtigen Zeitpunkt verpasst. Und während ich sie an der Auffahrt zur Salzburger Autobahn überhole – hoppla, das Gaspedal geht aber leicht – ist mir bewusst, bin ich “aware“, wie man das heute so schön sagt, dass es nicht gerecht ist. Den Erfolgreichen freie Bahn, aber ich mag halt keine energischen Drängler. Sie biegt ab zu ihrem Büro im Plattenbauareal des Münchner Südens, ich fahre an den Tegernsee. Sie hat acht Stunden vor sich und berechnet aus Gründen des Vorankommens nur sechs, ich schreibe irgendwann am Abend meinen Beitrag runter, während draußen Kuhglocken bimmeln und sich der schöne Tag dem Ende zuneigt.
Denn das Wetter war viel zu schön für Arbeit und eigentlich finde ich ja, dass jeder an so einem prächtigen Spätherbsttag das Recht haben sollte, die Gunst der sonnendurchfluteten Stunden zu nutzen und noch einmal Adieu zu den Bergen zu sagen, die sich majestätisch über der Schlamm- und Schotterebene Münchens und Restdeutschlands erheben. Viele tun es auch, aber noch mehr zeigen Leistungsbereitschaft und ziehen den Beruf mit aller Kraft durch, weil sie andere Prioritäten haben. Die Ungerechtigkeit entsteht, weil ich mir meiner Privilegien voll bewusst bin. Aber andere kennen die Annehmlichkeiten meines Daseins gar nicht und denken, sie seien schon privilegiert, wenn ihr Schreibtisch im Großraumbüro Blick auf die Berge hat, wenn sie den Kopf verrenken, und sie im Meeting Protokoll führen dürfen. Denn wer schreibt, der bleibt, und nicht nur, wenn er bei den Grünen in Österreich petzt.
Das ist, wenn es nicht gerade um meine Privilegien geht, dann auch der Moment, da es dem Staat und Politikern immer wieder gefällt, von sozialer Gerechtigkeit und Gleichstellung zu reden. Sie zerren ein Negativbeispiel wie mich hervor – Wenigleister mit vorteilhafter Geburt und erfreulicher Tagesgestaltung je nach Gusto und Wetter – und verweisen darauf, dass es anderen schlechter geht, oder sie in verbissener Art mehr tun, und bieten sich als Problemlöser an. Sei es, dass sie den Leistungsstand in Gymnasien senken, damit mehr als 0,5% der Berliner dort eine Chance haben, sei es, dass sie höhere Erbschaftssteuern fordern, sei es, dass sie Frauenquoten bei der Beförderung und in Führungspositionen verlangen, auch wenn hemmungsloses Drängeln in untermotorisierten Autos nicht wirklich ein Kennzeichen sozial kompetenter Gestaltung der Welt für alle anderen ist. Im Prinzip, grosso modo, bei sehr oberflächlicher Betrachtung und gefragt, ohne dass ich zu dem von mir ohnehin eher vernachlässigten Nachdenken komme, würde ich auch sagen: Ja, mehr Gerechtigkeit und Gleichstellung wäre nett.
Was ich damit ohne viel Nachdenken meine ist: Wenn jemand krank ist und einen Rollstuhl braucht, sollte er ihn ohne monatelangen Grabenkrieg mit den Behörden bekommen. Und es ist eine Schande, dass bei uns Rentner Flaschen sammeln müssen, während Afrika-Überweisungen mit Western Union aus dem Sozialsystem heraus in Deutschland florieren können, weil man sogar angehenden Terroristen einen Aufenthaltsstatus unbürokratisch ohne Anhörung gibt, was den Missbrauch des Systems natürlich fördert. Ich meine die totale Nacktmachung der Deutschen für ein Hartz-IV-System, das aber auf der anderen Seite auch Personen verdaut, die Pässe wegwerfen. Oder ganz eigennützig gesagt: Die Hetzjagd auf private Vermieter, die nicht am Versagen der Politik beim Bau günstigen Wohnraums schuld sind – die ist auch nicht wirklich gerecht. So hat eben ein jeder Anlass zur Klage und kann das auch begründen, und sogar im Kern den sozialen Forderungen vieler Parteien recht geben – ohne sie dann zu wählen, was die nordwestdeutsche Rentnerpartei SPD gerade wieder erlebt hat.
Denn so sozial, dass ich jede Gleichstellung gut finde, bin ich dann auch nicht, und das habe ich kurz vor der steilsten Kurve bei der ersten Etappe meiner Bergabschiedstour gemerkt. Wie immer bin ich meinen Hausberg gefahren, die Neureuth, die am Ende ein grandioses Bergpanorama bietet, und einen Forstweg aufweist, der gut fahrbar ist. Für mich im Trainingsstand 2017 zumindest, 2008 wäre ich an diesem kleinen Hügel fast noch zugrunde gegangen, wie alle, die ein Konditionsproblem haben, und ein Leben in der Ebene, das ihnen die Erkenntnis der eigenen Gebrechlichkeit vorenthält. Früher war dieser Hügel für mich an der Grenze des Möglichen, früher habe ich hier gelitten, aber ich habe trainiert und gelernt, beim Weg nach oben im Sattel zu bleiben. Irgendwann ist es gelungen, auch die steilsten Kurven durchzutreten, und letztlich war ich so weit, dass ich von unten bis oben auf dem Rad bleiben konnte. Die Zeiten für den Berg wurden kürzer, aus einer dreistündigen Schinderei wurde ein Abendradspaziergang von 52 Minuten, was für 550 Höhenmeter nicht ganz schlecht ist. Mag die Dränglerin auch fleissiger im Büro sitzen: Am Berg kann mein Ehrgeiz grenzenlos und mein Willen belastbar wie ein Stahlträger sein.
Die schlimmste Stelle am ganzen Berg ist die einzige 180°-Serpentine mit über 20% Steigung, und vor und nach dieser Kurve sind auch noch zwei eklige Rampen- Im Winter fliegen hier viele Rodler in die Bergbotanik, im Sommer steigen die meisten Radler irgendwo ab. So tat es auch der fette, alte, weisse Mann, der mich kurz vor der Kurve surrend und langsam tretend mit dem Pedelec überholt hatte. Seine ganze Konzentration war darauf gerichtet, schlingernd das ungeahnt steile Terrain zu meistern, über das ihn der Elektromotor nach oben zog. Während ich von hinten heran keuchte, öffnete er seine Flasche und goss Flüssigkeit in einen orange-grün bespannten Bauch, ohne jeden Ehrgeiz, die Sache in einem Zug zu bewältigen. Warum auch. Er mag im Tal alt und fett und wenig mobil sein, er keucht vermutlich schon nach einem Treppenabsatz, aber hier ist er mir dank Motor gleichgestellt.
Man kann darüber diskutieren, ob es Menschen, die nicht trainieren und ihren Körper fit halten, erlaubt sein soll, dort zu sein, wo sie dank eigener Kraft nicht hin gelangen. Ich finde es gut, dass Menschen mit Gehbehinderung auf der anderen Seite mit dem Auto nach oben gefahren werden, ich habe selbst hier schon Kinder mit dem Rodel nach oben gezogen. Ich versuche, aufmunternd gegen andere zu sein und sie zu bekräftigen, dass ihnen der Gipfelsieg gelingen wird. Und natürlich ist auch im Kern nichts dagegen einzuwenden, wenn fette, alte Männer, die es sonst nicht schaffen, ein Pedelec zur Hilfe nehmen. Was ich dann aber nicht brauche und will, ist ein weiterer Überholvorgang durch so einen Herrn, der mir dann zuruft: Glei hommas g’schafft!
Na, möchte ich da zurückrufen, Du hosd gor nixn gschafd, Du blahda Gogge! Eam schaug ned oh, faula Seggl hoggd aufm Mofa und moand, des sei ah no wos, a so a Schbruchbeidl. Gesagt habe ich dann aber, Na, a wengal is scho noh, aber eigentlich meinte ich da: Dreckiger Flachlandtiroler, du bist hier zum ersten Mal und laberst einen Hiesigen voll, nach lumpigen 150 Höhenmetern von 500 auf Deinem Pedelec – dabei habe ich nicht mal die Hälfte und Du hast nur den Elektromotor, um Deine Schwäche aufzuheben. Ich kenne nicht nur den Weg nach oben, ich kenne auch den Weg, um aus einem Zustand wie Deinen langsam, mit Härte gegen sich selbst, mit Schweiss und Blut einen zu machen, der es wirklich geschafft hat. Du hast mir nicht zu sagen, dass wir es geschafft haben. Ich hätte Dir eigentlich zu erklären, warum Du es nie schaffen wirst. Ich bin so höflich, es nicht zu tun. Also erzähle Du mir nichts vom Vorankommen am Berg. Ich fahre hier hoch. Du wirst hochgefahren. Ich leiste. Du versagst. Wir sind hier nicht, weil Du etwas kannst. Wir sind hier, weil Du mir von einem tumben Elektromotor gleichgestellt wirst.
Natürlich waren wir erst bei einem Drittel der Strecke, natürlich ahnte er nicht, was da oben noch an einem Steilstück kommen würde, an dem man nicht mehr fahren kann, sondern zu Fuss aufsteigen muss. Deshalb war ich letztlich dann 20 Minuten vor ihm oben, und er sah aus wie seine eigene Leiche – nach lumpigen 100 Höhenmetern, an denen wir dann wirklich gleichgestellt waren. Ich muss ganz ehrlich sagen: So hat er mir besser gefallen als beim Überholen. Das ist jetzt nicht nett und nicht höflich, drückt aber das Problem mit der ganzen Gleichstellung aus: Letztlich wird da ein Mechanismus aus Regeln erzeugt, der Unterschiede verschwinden lässt, den einen hilft und die anderen zumindest nicht fördert. Das ganze ist erträglich, wenn die Geförderten sich bewusst sind, dass sie hier privilegiert werden, und sich entsprechend verhalten.
Aber auf dem Weg zum sozialen Olymp werden massenhaft solche Pedelecs der Gleichstellung angeboten, bei der Inklusion in der Schule, bei Unterrichtsmaterialien, die Jungen benachteiligen, bei der Berufungspraxis und Genderlehrsofas der Universitäten, bei den Abertausenden von Förderungseinrichtigen, die Aberzigtausende von Helferstellen in staatlich finanziertes Lohnbrot bringen. Es wird mit einem enormen Verwaltungsaufwand die Beseitigung von Ungerechtigkeiten betrieben, mit Flyern für einen Anspruch auf Wohnungen in Berlin nach 6 Monaten, mit Karriereprogrammen und Quoten und Fake News wie 21%-Gender-Pay-Gap. Das kann man machen, aber es trifft auf eine Gesellschaft, in der viele erlebt haben, wie diese Gleichstellung nicht zwingend allen nutzt, und doch einige massiv benachteiligt. Es gibt da welche, die alles, was sich ihnen bietet, bis zum Maximum ausreizen, und andere, die der Meinung sind, dass ein Sozialsystem nur funktioniert, wenn nicht jeder wirklich alles nimmt, was er kriegen kann. Das sind dann wiederum Menschen, die durchaus sozial und in sozialen Systemen denken, aber nicht zwingend Parteien wählen, die noch mehr Systeme versprechen, die asozial ausgenutzt werden können. Besonders hässlich wird es, wenn einem dann jemand vom Schlage Gabriel-Merkel-Schulz-Altmaier-Roth-Göring-Eckardt vom Balkon aus zuruft, man werde das schon zusammen schaffen. Nur hier noch eine Erbschaftssteuer und da noch eine Mietpreisbremse und dann noch eine Quote und spezielle Förderprogramme, und wer sich beschwert, wird von den staatlich geförderten Neuen Deutschen Medienmachern mit ihrem 1984er Neusprechkatalog konfrontiert.
Es gibt auf diesem sozialen Berg viele Pedelcs und gleichzeitig enorm viele, die um einen Rollstuhl kämpfen müssen, und denen keiner hilft, eine Wohnung zu finden. Es gibt, ganz konkret, so viele dieser Pedelecs, dass sich auch unten viele fragen, ob nicht die Gleichstellung der anderen einer der Gründe ist, warum´sie selbst zurück bleiben. Mir kann es letztlich egal sein, ich kämpfe für mich allen gegen die Berge in meiner Abschiedstournee vor dem Winter, und ich weiss, was ich kann und was meine Privilegien sind. Ein halbtoter Pedelecfahrer oben auf meinem Berg ist mir so egal, wie es mir egal ist, dass die Dränglerin in ihrem Büro die ersten Grippeviren der Saison einfängt. Da bin ich herzlos, aber ich habe nicht den Eindruck, dass die neuen sozialen Versprechungen des Staates beim Post-HartzIV-Volk, das letztlich bezahlen muss, als netter und liebevoller empfunden werden.
Die Gleichstellung von Fett und Kleinwägen
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