Kleid Weiß Italien
Tausende chinesische Fabriken produzieren in der italienischen Kleinstadt Prato illegal Billigkleider für ganz Europa. Gearbeitet wird rund um die Uhr – unter oft lebensgefährlichen Bedingungen.
In den Ecken der staubigen Werkstatt türmen sich zerschnittene Stoffreste. Halb aufgerollte Textilballen, leere Plastikflaschen, Kartons, zerknülltes Papier, schwarze Müllsäcke pflastern den Boden. An den bröckelnden Mauern hängen ungesicherte Kabel. Es riecht nach Frittieröl. Hinter improvisierten Wänden aus Pappkarton verbergen sich winzige Schlafkojen. Auf einer Matratze in einer dieser stickigen, fensterlosen „Kammern“ schaut zwischen zerknüllten Decken ein knallroter Kinderrucksack hervor.
Der Besitzer des Rucksacks, ein höchstens dreijähriger chinesischer Bub, klammert sich an das Bein einer Frau. „Wie heißt du?“, fragt ihn ein Polizist auf Italienisch. Der Kleine versteckt sich hinter der Chinesin, die nervös auf ihrem Handy herumtippt. Auch sie beantwortet die Fragen der Polizei nicht, ebenso wenig wie ihre „Kollegen“, die schweigend neben den eng aneinandergestellten Nähmaschinen sitzen. Lediglich eine Frau, Mitte 20, schwarze Lederjacke, spricht sichtlich gereizt mit der Übersetzerin. Als einzige der insgesamt zwölf Chinesen – inklusive Kind – hat sie Papiere: einen Personalausweis und einen Teilzeit-Arbeitsvertrag.
Die Frau ist offenbar die „Managerin“ dieser „Untergrund-Kleiderfabrik“, die sich mitten in einem ruhigen Wohnviertel der toskanischen Kleinstadt Prato befindet. Der Besitzer sei gerade „auf Urlaub in China“, sagt sie. „Was für ein Zufall“, kommentiert Polizistin Flora Leoni sarkastisch, die die Razzia leitet. Was sie hier vorfindet, sieht sie täglich: eine Näherei, in der meist illegale Arbeiter aus China im Akkord Hosen, Kleider, Blusen, Hemden, Röcke, Jacken, Mäntel für Kunden aus ganz Europa produzieren. Genäht wird Tag und Nacht: Die Schneider wohnen, schlafen, essen an ihrem Arbeitsplatz. „Oft verdienen sie nichts. Mit ihrer Arbeit müssen sie die Schlepper zurückzahlen, die sie nach Italien schmuggelten.“ Kommt die Polizei, ist der Besitzer fast immer „in China“.
Der Beamte des Arbeitsinspektorats zeigt auf die Pappwände, dann auf die Kabel: „Springt hier auch nur ein winziger Funke auf die Stoffe, geht alles in Flammen auf.“ Es gibt zwei Türen. Aber sie sind tagsüber fest verriegelt, bestätigen Nachbarn. „Auch die Fenster waren immer zu. Sie hatten wohl Angst vor Kontrollen“, sagt eine Frau, die im selben Gebäude wohnt.
Erst im Dezember kamen bei einem Brand in einer Kleiderfabrik sieben chinesische Arbeiter ums Leben. Alle waren illegal in Italien. Zwei chinesischen Besitzerinnen des Unternehmens sowie dem Eigentümer der baufälligen Industriehalle – einem Italiener – wird gerade der Prozess gemacht.
Damals hat die Kleinstadt weltweit für Schlagzeilen gesorgt. Von Arbeitsverhältnissen „wie in Bangladesch“ wurde geschrieben, von Lagerfabriken, von Sklaventum. Dabei ist das Problem alt. In den 1980er-Jahren zählte Prato zu den reichsten Städten des Landes, hier produzierten kleine Familienbetriebe noble Stoffe für die Großen der Made-in-Italy-Mode: Armani, Versace, Ferré verwendeten Textilien aus Prato. Die ersten chinesischen Einwanderer kamen vor etwa 25 Jahren. Erst nähten sie für italienische Produzenten – billig, und fast immer illegal. Doch dann kam die Krise: Pratos Stoffe waren auf dem internationalen Markt nicht mehr konkurrenzfähig, eine Firma nach der anderen musste schließen. Die Stadt verlor um die Jahrtausendwende nahezu die Hälfte ihrer Unternehmen.
„Made in ChinItaly“ Die Chinesen zogen in die leeren Industriehallen ein, die italienische Industrielle ihnen zu hohen Preisen vermieteten oder verkauften. Die Ex-Billigarbeiter verwandelten sich bald in erfolgreiche Unternehmer, dank einer Ware, die nichts mit den traditionellen Prato-Produkten gemein hat: „Prontomoda“, wird sie genannt, schnelle, billige Fertigkleidung. Die Stoffe, oft aus dubioser Qualität, importieren die chinesischen Geschäftsmänner – meist illegal – aus der Heimat. Trotzdem bekommen die Kleider das international begehrte Made-in-Italy-Label: Chinesische „Prontomoda“ aus Prato wurde sehr schnell zum Milliardengeschäft.
Geschätzte 30.000 Chinesen sollen sich inzwischen im rund 187.000-Einwohner-Städtchen aufhalten, nicht einmal die Hälfte davon sind gemeldet. Dafür sind rund 4800 chinesische Firmen bei der Handelskammer registriert, etwa 17 Prozent aller Unternehmen in Prato wären demnach chinesisch. Wie viele es wirklich gibt, weiß niemand. „Diese Firmen haben eine hohe Volatilität. Das macht unsere Arbeit so schwierig“, sagt Gino Reolon, Chef der Finanzpolizei von Prato. Ein chinesisches Unternehmen habe eine durchschnittliche Lebensdauer von zwei Jahren. Das hat System: Um Kontrollen zu entgehen, werden Firmen geschlossen, um dann vom selben Besitzer unter einem anderen Namen neu gegründet zu werden. Meist sind die die Unternehmen unter Personen registriert, die nichts mit dem Konzern zu tun haben. „Es ist eine Jagd auf Gespenster“, klagt Reolon. 2013 kam sein Team Steuerhinterziehungen im Wert von 156 Mio. Euro auf die Spur und konnte illegale Geldtransfers nach China in der Höhe von zehn Mio. Euro nachweisen. Wohl nur ein Bruchteil des Schwarzgeldes von Prato. Der Comandante weist auch auf andere Gefahren hin: Selten nur würden Farbstoffe oder Textilien der „Prontomoda“-Kleider EU-Qualitätsstandards entsprechen – „ein gesundheitliches Risiko für den Konsumenten“.
Drei Euro pro T-Shirt. Die „Prontomoda“-Kunden stört das nicht. Die kleine Pension in der Altstadt von Prato ist nahezu ausgebucht. Mitsuko tauscht mit einem Schweizer Paar Adressen von Schneidern aus, die besonders billig produzieren. Die Geschäftsfrau aus Tokio kauft schon seit Jahren in Prato für ihren Chef ein, der in Japan sechzehn Modegeschäfte besitzt. „Unsere Kunden wollen made inItaly“, so ihre Begründung für die lange Anreise. Eine Italienerin hat gerade für ihre Boutique im Adria-Badeort Riccione 100 T-Shirts in Auftrag gegeben. „Morgen sind sie fertig.“ Pro Shirt zahlt sie drei Euro. Es wird bar bezahlt, eine Rechnung verlangt niemand. „Wieso auch? Es ist ja so billig, weil es schwarz produziert wird“, sagt die Italienerin.
Im Macrolotto, dem Industriegebiet rund um Prato, herrscht sieben Tage die Woche rund um die Uhr Hochbetrieb. Das produktive Herz der Stadt ist heute in chinesischen Händen. Firmen mit schillernden Namen wie „Lucy Moda“ oder „You You Dress“ sind in die Industriehallen eingezogen, bunte chinesische Schriftzeichen prangen auf deren Schildern. Hier befand sich die Fabrik, die im Dezember abbrannte. Es ist kurz vor Mitternacht, am Rand der breiten Straße des Industriegebietes bieten improvisierte chinesische Suppenküchen warme Mahlzeiten an. In so gut wie allen Hallen brennt Licht.
Chinesische Arbeiter laden Kleiderpakete in Lieferwagen, die neben teuren Audis und BMWs vor den Fabriken parken. Ein kleiner Junge spielt zwischen Kleiderständern Fußball, während zwei Frauen einen Stoffballen in den hinteren Teil der Fabrik schleppen. Sobald man sich dem Eingang nähert, erscheint wie aus dem nichts ein „Aufpasser“. Der Mann verriegelt die Tür.
Im Macrolotto arbeiten auch Marco H. und Simone W., zwei junge Chinesen, die mit ihren Familien in den 1990er-Jahren aus China in die Toskana gekommen sind. Sie wollen nicht, dass ihre Namen publiziert werden, „weil wir hier schon genug Probleme haben“. Sie sprechen von „Hexenjagd“, von willkürlichen Polizeikontrollen, bei denen es nur um Schikane gehe, von Wut und Angst. „Täglich werden Chinesen ausgeraubt. Die Polizei tut nichts dagegen. Sie sagt uns: Selbst schuld, wenn ihr so viel Bargeld bei euch habt“, empört sich Marco. Vorwürfe, dass Arbeiter ausgebeutet würden, lässt Simone nicht gelten. „Niemand wird hier zu etwas gezwungen. Und wir würden alle gern nur acht Stunden pro Tag arbeiten. Das geht aber nicht, wenn man erfolgreich sein will.“ Die beiden sehen sich als Pioniere. „Wir sind wie die Großväter der Prateser: Die haben auch durch harte Arbeit aus dem Nichts ein Textilimperium geschaffen.“
In der Polizeistation von Prato sitzen die zehn festgenommenen illegalen chinesischen Arbeiter inzwischen in einem engen Zimmer. Aldo Milone, Stadtrat für Sicherheit, blickt kurz hinein. „Die bekommen jetzt ein Papier. Darauf steht, dass sie Italien verlassen müssen. Und beim nächsten Einsatz erwischen wir sie wieder.“
Diese Arbeiter sind in Italien jetzt vogelfrei, rechtlos und schutzlos ihren Ausbeutern ausgeliefert.
(“Die Presse”, Print-Ausgabe, 06.04.2014)
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