Günstige Komma Kleider
Hier sitzt die 38 perfekt, während dort nicht mal mehr der Knopf zugeht. Ist auf Konfektionsgrößen wirklich so wenig Verlass? Könnten wir dann nicht alle etwas gelassener sein?
Bis ans andere Ende des Ladens sind es vielleicht 50 Meter. Wer schnell ist, der braucht weniger als eine Minute, um an den Regalen und Kleiderständern vorbeizuhasten, an all den Marken, s.Oliver, Mexx, Zero, Opus, Gerry Weber, in 60 Sekunden quer durch die deutsche Damenmodenlandschaft. Diana Dietrich geht diesen Weg täglich dutzende Male, es ist ihr Job. Normalerweise hält sie hier und da an, sucht Oberteile heraus, Hosen, Röcke, Jacketts, all das, was ihre Kundinnen anprobieren wollen. Heute aber steuert Dietrich, 33 Jahre, schwarze Haare, goldene Hose, auf direktem Weg durch das Modehaus Stammel in Buchloe. Sie hat eine Mission, sie will etwas zeigen.
In der Hand hält Dietrich ein Sweatshirt der Marke StreetOne, rote Streifen auf weißem Grund. Auf der anderen Seite des Geschäfts, nimmt sie ein zweites Oberteil vom Bügel, diesmal Betty Barclay, und legt beide Oberteile übereinander. „Hier sieht man es ganz eindeutig“, sagt die Verkäuferin und misst mit ihren Fingern den Abstand zwischen beiden T-Shirts. Das Betty-Barclay-Oberteil ist knapp fünf Zentimeter breiter als das andere Shirt, dafür aber deutlich kürzer. Im Etikett steht dennoch bei beiden dieselbe Größe: 38.
Welches der beiden Oberteile eine echte 38 ist? Eigentlich egal. Denn kaum etwas in der deutschen Modelandschaft ist so willkürlich wie die Konfektionsgrößen, die in die Etiketten der großen Marken eingenäht sind. Natürlich gibt es Vorgaben, genauer: Die europäische Norm EN-13402 die exakt regelt, welche Größe zu welchen Maßen gehört. Der Haken an der Sache: Kaum ein Hersteller hält sich daran.
Es ist ein Problem, das für viele Frauen schon fast zum Einkauf dazugehört, so wie enge Umkleidekabinen oder Schlangen vor der Kasse. Wer in der kleinen Boutique in eine 36 passt, muss eben bei Zara oder Mango vielleicht schon zur Bluse in Größe L greifen. Und wer bei H&M einen Pulli in Größe 42 braucht, schlüpft bei C&A trotzdem ohne Probleme in eine S hinein.
Manche Frauen aber sind nicht bereit, das zu akzeptieren. Ruth Clemens zum Beispiel. Die britische Studentin hat im vergangenen Jahr den Kampf mit H&M aufgenommen. Clemens ist 1,80 Meter groß und schlank, normalerweise trägt sie Kleidergröße 42. Als sie bei H&M eine Jeans in Größe 44, der größten Größe im Laden, nicht einmal ansatzweise zubekam, machte sie ein Foto davon und stellte es auf Facebook. „Bin ich zu fett für eure Alltagskleidung?“, fragte die Studentin.
„Soll ich einfach akzeptieren, dass im normalen Handel verfügbare, günstige und modische Kleidung nicht für Menschen wie mich gemacht wird?“ Fast 100 000 Menschen haben bis heute auf den Beitrag reagiert, es scheint, als hätte Clemens einen Nerv getroffen. Auch H&M reagierte, wenn auch eher nüchtern-distanziert. Die schwedische Modekette entschuldigte sich bei der Studentin und versicherte, alle Kunden „mit einem gesunden Selbstbewusstsein nach Hause“ schicken zu wollen.
Wer sehen will, wie unterschiedlich viele Marken die Größen interpretieren, muss nur einen Blick in ihre Größentabellen werfen: Während Esprit für eine Jeans in Größe 38 eine Taillenbreite von 72 Zentimetern zugrunde legt, näht der spanische Modekonzern Zara seine Hosen von vorneherein zwei Zentimeter enger. Die Erklärung ist relativ einfach: Mode wird nicht nur für Mitteleuropäer gemacht. Die Hersteller richten sich vielfach nach den Durchschnittsmaßen in ihren Herkunftsländern. In Spanien, dem Heimatland von Zara, orientiert man sich also an eher zierlichen Frauen. In Skandinavien, wo die Menschen meist größer sind, fällt die Mode dementsprechend aus.
Gudrun Allstädt plädiert deshalb für mehr Gelassenheit und Flexibilität. „Eine Konfektionsgröße“, sagt sie, „ist keine DIN-Norm“. Allstädt ist Redakteurin beim Fachblatt TextilWirtschaft, sie beobachtet die Branche seit Jahren. „Jedes Unternehmen hat seine eigene Formensprache“, betont die Expertin. Das ließe sich mit Standardgrößen gar nicht immer abbilden. Manch ein Schnitt sei eben eher für eine Frau mit einem androgynen Körper gemacht, ein anderer sehe dagegen vor allem an einer kurvigen Frau gut aus. „Die Menschen sind ja nicht identisch“, sagt Allstädt. Warum also sollte es die Mode sein?
Und dennoch gibt es Menschen, die bei Diana Dietrich, der Verkäuferin aus Buchloe, eine gut sitzende Hose nicht kaufen, weil sie normalerweise eine kleinere Größe tragen. Die verzweifelt sind, wenn ihnen plötzlich die 38 nicht mehr passt. Auch Textilexpertin Allstädt kennt diese Fälle: „Viele Menschen kränkt es regelrecht, wenn sie eine größere Größe brauchen.“ Denn Mode, Kleidung, Äußerlichkeiten – das geht auch immer einher mit den großen Fragen: Bin ich schön? Finden mich andere schön? Und vor allem: Was, wenn nicht?
Glaubt man Forschern der Universität Bielefeld, dann fühlt sich jede zweite junge Frau in Deutschland zu dick – auch dann, wenn sie objektiv gesehen nicht übergewichtig ist. Eine Kleidergröße zu viel ist dann nicht nur eine andere Zahl, ein anderer Buchstabe, sondern eine Niederlage. Gepaart mit der Angst, weniger wert zu sein als der Rest der Gesellschaft. Denn Dicksein wird hierzulande noch immer als Stigma gesehen. Einer Studie der Krankenkasse DAK zufolge empfinden viele Menschen Übergewichtige als faul und träge. Schlanke gelten dagegen meist als kontrolliert und leistungsstark, als Vorbilder in einer Gesellschaft, die Disziplin und Perfektion zu Leitsätzen erhoben hat.
Dabei spielt es kaum eine Rolle, dass der Großteil der Gesellschaft alles andere als perfekt ist. Dass die deutsche Durchschnittsfrau Kleidung in Größe 44 kauft, dass sie nur 1,66 Meter groß ist und einen BH in der Größe 80C trägt. Denn nicht der Durchschnitt bestimmt, was als schön gilt, sondern das Außergewöhnliche: die tausendfach nachbearbeiteten Models auf den Werbeplakaten an der Bushaltestelle, die künstlich drapierten Bilder auf Instagram und die vermeintlich perfekte Modewelt in Sendungen wie Germany’s Next Topmodel.
Mittlerweile aber gibt es einen Gegentrend: Das amerikanische Modemagazin Sports Illustrated, sonst eher bekannt für seine Fotos von sehr dünnen, sehr perfekten Frauen, zeigte mit Ashley Graham im vergangenen Jahr erstmals ein Übergrößen-Model auf seiner Titelseite. Ganz langsam komme das auch in der deutschen Modebranche an, sagt Expertin Gudrun Allstädt. Immer öfter fänden Kundinnen bei bekannten Marken auch größere Größen. „Als Comma vor einigen Jahren die Größe 46 ins Sortiment aufnahm, ging ein Ruck durch die Branche“, erinnert sich Allstädt. Mittlerweile würden immer mehr Marken erkennen, dass auch große Größen modisch sein können.
Aber nicht nur die Modehersteller müssen umdenken, auch viele Kundinnen könnten sich mehr trauen, sagt Verkäuferin Diana Dietrich. „Wer ein bisschen mehr hat, muss sich doch nicht in einen Sack hüllen.“ Sondern könne einfach tragen, was gefällt und gut sitzt. Und vor allem, sagt sie dann noch, sollte keine Frau ihr Glück von einer Konfektionsgröße abhängig machen.
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