Festtagskleider Damen Kurz
Das Schwarz-Weiß-Foto vom Heiligabend Ende der 60er-Jahre ist schon ein wenig vergilbt. Ein kleines Mädchen steht aufgereiht zum Singen mit seinen Geschwistern am Tannenbaum in einem Samt-Minikleid – bordeauxrot wird man ihr später erzählen – mit weißem Spitzenkragen sowie einer kratzigen Baumwollstrumpfhose und schwarzen Lackschuhen. Fein herausgeputzt im Kleid wie Mutter und Geschwister – und der Vater strahlt im schwarzen Sonntagsanzug mit weißem Hemd und dunkelroter Samtfliege in die Kamera.
Zehn Jahre weiter im Familienalbum geblättert, trägt die nunmehr Jugendliche ihre weiße Konfirmationsbluse mit Rüschen am Stehkragen sowie Schulterpolstern, einen engen, knielangen hellblauen Rock und dazu Ballerinas, fein herausgeputzt wie alle anderen – und der Vater in dunkler Anzughose und weißem Hemd mit Krawatte strahlt dazu.
Zwanzig Jahre später fällt die Interpretation von schicker Kleidung in der Familie nicht mehr so homogen aus: Die stilistische Bandbreite reicht vom schwarzen Kleid, dunklen Rock mit Goldschimmer, weißer Seidenbluse, schlichtem Anzug, Hemd ohne Krawatte oder Fliege, Strickkleid bis zum tannengrünen Pullunder zur lässigen Hose. Und 2017? Es sei immer noch so, dass an Weihnachten im privaten Rahmen festliche Kleidung beliebt sei, sagt Petra Schreiber, Präsidentin des Bundesverbands Farbe, Stil, Image: „Bei jungen Menschen lässt das zum Teil etwas nach oder wird etwas lässiger gesehen. Trotzdem ist Weihnachten noch etwas Besonderes, was die Kleidung angeht. Die Frage ist auch, wie viele Anlässe gibt es denn noch, um sich schick zu kleiden?“
Trendforscher Peter Wippermann geht noch weiter: Er meint, dass sich die Deutschen aktuell „sehr viel bewusster anziehen für diesen sehr bedeutenden Festtag innerhalb der Familie“, und bezeichnet dies als eine „Revitalisierung einer Tradition“, die es „definitiv gar nicht so kontinuierlich gegeben“ habe. Ein Grund sei eine „stark gestiegene Sehnsucht nach Familie“. Diese hat er als Mitautor im Werte-Index 2018 festgestellt, der alle zwei Jahre auf der Auswertung von Diskussionen auf Social-Media-Kanälen basiert. Auf dieser Skala wanderte der Wert Familie im Vergleich zu 2016 um drei Plätze nach oben auf Platz drei.
Insgesamt sei der Hang erkennbar, Weihnachten im Kreise der Familie „wieder würdevoll zu gestalten“, und dazu gehöre auch die gezielte Wahl der Kleidung, meint Wippermann. Im Gegensatz zu früheren Zeiten: „Die Inszenierung von Tradition ist kennzeichnend für das, was am Weihnachtsabend passiert. Das ist nicht selbstverständlich, wenn man ein bisschen zurückschaut, war Weihnachten und das Zusammentreffen mit der Familie nicht so populär wie heute.“ So sei es Mitte der 60er- bis zu den 80er-Jahren für Teile der Bevölkerung relativ uninteressant gewesen, „dass es Weihnachten gab“, und „schon gar nicht“ existierte da „die Sehnsucht, die Familie zu besuchen“. Die 68er-Bewegung hinterließ auch hier ihre Spuren.
Doch nun entdecken offenbar viele Menschen diese Sehnsucht neu. Das Streben nach Harmonie, Geborgenheit und Sicherheit im Kreise nahestehender Menschen am festlich gedeckten Tisch mit einem geschmückten Tannenbaum als hübscher Kulisse wird auch durch die Bilder der Werbung befeuert, die immer auch ein Spiegel der Zeit ist. Greift sie doch erfolgsversprechende Themen und Wünsche potenzieller Kunden auf.
In diesem Jahr sei in der Fernsehwerbung sehr stark der soziale Frieden präsent gewesen, hat der Trendforscher beobachtet. Im Edeka-Spot sei es beispielsweise gegen die künstliche Intelligenz und für Menschlichkeit gegangen, „also ganz große Themen. Da weht ein Wind von dieser Umbruchstimmung, die wir haben. Keiner weiß genau, wohin es geht, zum Beispiel mit künstlicher Intelligenz und den Veränderungen am Arbeitsplatz bis hin zur Politik. Für die meisten Menschen gibt es keine wirkliche Orientierung, man hangelt sich so durch.“ Weihnachten sei dagegen ein Fest der Orientierung, denn da wisse jeder, wie er auftreten könne, wo er feiere, was er dort machen müsse – und das sei im Moment sehr wertvoll, meint der Trendforscher.
Wer in seinem Familienalbum durch die Weihnachtsbilder blättert, der kann auf Modegeschichte stoßen: Alle Jahre wieder lässt sich unter dem Tannenbaum eine persönliche Stilbilanz des ablaufenden Jahres ziehen. In der diesjährigen Saison könnte das im Rückblick so aussehen: Bei den Damen sind laut Stilberaterin Petra Schreiber die Samtröcke und Seidenbluse mit ein wenig Volant an den Ärmeln sowie Spitzenkleider wieder gefragt – und zwar in den Farben Bordeauxrot, Blau oder Creme. Vintage sei Dank, Altes ist wieder modisch.
Bei den Herren sei die legere oder lockere Kleidung wieder groß in Mode – Slim Fit ade. „Ein Jackett aus Samt ist auch hier angesagt sowie Karomuster. Dazu trägt man eine festliche Hose, sofern man nicht den klassischen Anzug anhat, der eigentlich nie aus der Mode kommt und zu jedem Anlass passt.“ Zudem feiert die Fliege ihr Comeback unter der Tanne, denn die hätten „gerade junge Männer wieder für sich entdeckt. Das gilt ebenso für das Einstecktuch im Jackett“, sagt Schreiber. Darüber hinaus seien die Farbe Rot sowie lange Abendkleider sehr angesagt, ergänzt Wippermann und spricht in diesem Zusammenhang von „demonstrativer Festlichkeit“.
Eine Tradition, deren Wurzeln ins 18. Jahrhundert zurückreichen. Damals entwickelte sich Weihnachten zum bürgerlichen Familienfest mit eigenen Ritualen, die sich immer weiter vom christlichen Fest abkoppelten. Man kleidete sich zu diesem Anlass in seinen besten Sachen, im sogenannten Sonntagsstaat, der zum Kirchgang üblich war: „Der Sonntagsstaat spielte seit dem Ende des 18. Jahrhunderts eine große Rolle mit der Entwicklung des aufstrebenden Bürgertums, die praktisch einhergeht mit einer Absage an den adeligen Pomp“, sagt Dagmar Neuland-Kitzerow, Kustodin im Museum Europäischer Kulturen der Staatlichen Museen zu Berlin. „Es kam eine sachliche, demokratisch konnotierte Mode auf, die sich mit ein paar Kleidungsrichtlinien speziell für den Herrn verknüpfte. Der dunkle Anzug, wie wir ihn heute noch kennen, hat da schon seinen Ursprung.“
Die Historikerin sieht in diesem schlichten Modestil den „Ausdruck einer bürgerlichen Gesinnung und individueller Persönlichkeit, die sich von dem Stand unabhängig machen wollte“. Und in vielen Familien sei es am Sonntag bis weit in die 1960er-Jahre noch üblich gewesen, „dass gebadet, sich ordentlich angezogen und in die Kirche gegangen wurde. Zum besonderen Fest, Familienfest oder Heiligabend, wollte man einfach etwas Schöneres anhaben, was sich ganz klar vom Arbeitsleben abhebt – und das auch nach außen zeigen.“
Die Adeligen im 18. und 19. Jahrhundert dagegen hätten diese Einteilung in Werktags- und Festtagskleidung nicht gehabt. „Das entsprach nicht ihrem Sozialstatus.“ Natürlich waren sie zu Weihnachten gut gekleidet, „jedoch mussten sie weniger kommunizieren, dass sie sich das leisten können, das war ihr Standard. Sie waren modische Vorreiter. Wer konnte sich sonst die teure Mode aus Frankreich leisten?“
Der Sonntagsstaat hatte aber beim Kirchgang eine starke Bedeutung für Bauern, Arbeiter, Menschen, die in ärmlichen Verhältnissen lebten: „Der Sonntag als ‚Tag der guten Sachen‘ hatte einen gesellschaftlichen Status: Man zeigte am Sonntag, dass man auch etwas Besseres hatte. So konnte man ein wenig über die feinen sozialen Unterschiede hinwegsehen“, erzählt Neuland-Kitzerow. Der Spruch „Arm, aber sauber“ hänge mit damit zusammen: „Man hat über die Kleidung kommuniziert, dass man die Tugenden, die in der Gesellschaft allgemein galten, auch verinnerlicht hat.“
Über die übliche Kleidungordnung hinaus habe im Hinblick auf die ländliche Bevölkerung ein hygienisches Bestreben hinter dem Sonntagsstaat gesteckt: „Am Sonntag sollten alle einmal ordentlich gewaschen zur Kirche erscheinen in der besten Kleidung, die sie hatten“, erzählt die Historikerin. Die Kinder wurden an Feiertagen mit weißer Kleidung ausgestattet, denn sie sollten sich „ordentlich benehmen, sich sauber halten und nicht draußen spielen“.
Im 19. Jahrhundert sei „das modisch Kurzlebige zum weiblichen Standard“ erklärt worden, zumindest bei denen, die es sich leisten konnten. Für die meisten sei die Festtagskleidung jedoch langlebig gewesen. „In Untersuchungen wurde festgestellt, dass in der Schicht der Angestellten und Handwerker die Festkleidung später, wenn eine neue im Bestand dazukam, als Werktagskleidung getragen wurde, sofern sie nicht zu extravagant war und beim Arbeiten störte.“
Gestern wie heute ist der Kleidungstil ein Kommunikationsmittel. So spiele das Tragen festlicher Kleidung als eine Form von Wertschätzung für Gastgeber auch eine „ganz große Rolle“, meint Stilexpertin Petra Schreiber. Schließlich werde „ein tolles Essen gekocht, was in der Regel sehr zeitaufwendig ist, das soll auch vom Gast durch passende Kleidung geschätzt werden“. Jedoch sind sich die Experten einig, dass sich jede Familie ihre eigenen Stilregeln zu Weihnachten aufstellt – wenngleich mehr oder weniger offen ausgesprochen. „Die Individualität im Ritual ist wichtig“, erklärt Wippermann, „weil wir keine kollektive Gesellschaft mehr sind, sondern jeder sagt: ‚Ich schmücke meinen Tannenbaum oder Adventskranz ganz anders‘, aber man bleibt beim Grundthema: Adventskranz und Tannenbaum.“
Wer also in seiner alten Jeans und im Lieblingspullover im Elternhaus zum Weihnachtsfest erscheint, kann damit unter Umständen auch ein Kompliment aussprechen: „Ich fühle mich bei euch so wohl – und immer noch zu Hause!“
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